"Warum" - Weil es das Ganze wert ist

Die mir wahrscheinlich meist gestellte Frage der letzten Wochen lautet, warum ich überhaupt ein Auslandsjahr mache. Warum das nicht bis nach dem Abi warten kann? Warum ich es in Kauf nehme eine Klasse zu wiederholen? Was mir das Ganze überhaupt bringt? Nun, ich möchte versuchen es hier ansatzweise zu erklären.

"Ich finde keine einzige schlechte Sache an einem Auslandsjahr." Solche Aussagen habe ich in der letzten Zeit von vielen zukünftigen Austauschschülern gehört, aber ich weiß nicht richtig... Ich meine, das ist doch offensichtlich: Ich verbringe ein Jahr ohne meine Freunde und Familie. In diesem feiere ich das erste Mal Weihnachten ohne meine Familie, verpasse wie meine Geschwister aufwachsen und viele meiner Freunde ihr Abitur schreiben, erlebe lustige und schöne Momente nicht mit und gebe mittlerweile schon selbstverständliche Traditionen auf. Kannst du dir das vorstellen? Selbstverständlich bekomme ich irgendwann Heimweh. Ich werde weinen und mir wünschen die Zeit zurückdrehen zu können, um meine Liebsten noch einmal zu sehen. In diesem Moment beginne ich dann an allen zu zweifeln und frage mich, warum ich mir das überhaupt antue und nicht sofort wieder nachhause fliege? Doch auch das gehört dazu. Als Austauschschüler erlebt man schwere genauso wie schöne Zeiten, Tiefen genauso wie Höhen. "Doch was ist denn wenn, zum Beispiel die Chemie zwischen meiner Gastfamilie und mir nicht stimmt oder wenn die Leute auf meiner Schule total komisch sind? Und werde ich mich nach dem Jahr wieder in Deutschland einleben? Werden meine Freundschaften sein wie vorher?" Viele Leute sagen mir auch, dass es absoluter Schwachsinn ist meine Schulzeit zu unterbrechen und dass ich lieber nach dem Abitur, wenn ich unabhängig  bin, ins Ausland gehen sollte. Wie du sehen kannst, gibt es also auch negative Aspekte.

Aber trotzdem sind da einige Menschen, wie ich, die hinter einem Auslandsjahr stehen und sich voller Vorfreude ins Unbekannte stürzen. Schon Jahre träumen wir davon endlich ins Flugzeug zu steigen und unser "zweites Leben" anzufangen. Und dafür nehmen wir jede Träne in Kauf. Wir wollen die Welt entdecken, Menschen kennenlernen, neue Erfahrungen sammeln, sehen wie weit wir über uns hinausgehen können. Wir möchten wachsen, lernen, lachen, lieben, weinen... Aber das allerwichtigste für mich: Uns selbst neu kennenlernen. Vielleicht bin ich ja in Wirklichkeit eine ganz andere Person? Und das merkt man in keinem Urlaub. Natürlich gibt eine Reise auch spannende Einblicke in ein fremdes Land, aber ein Auslandsjahr ermöglicht ein intensives Kennenlernen und Auseinandersetzen mit der fremden Kultur, Lebensweise und auch mit mir selbst. Ich werde mit neuen Denkweisen und Einstellungen konfrontiert und lerne damit umzugehen. Und auf einmal mache ich mir Gedanken über meinen Charakter und meine Eigenschaften. Mit der Zeit werde ich aufgeschlossener, weltoffener, selbstbewusster, toleranter, flexibler, kontaktfreudiger, selbstständiger, kommunikativer und mutiger. Ich lerne fremde Perspektiven zu verstehen, Vorurteile zu hinterfragen, offen für neue Herausforderungen zu sein, mich anzupassen, nicht aufzugeben, durchzuhalten, zu kämpfen, neu anzufangen und Probleme selbstständig zu lösen. Plötzlich werde in zwei Sprachen sprechen, denken und träumen. Und stellt euch vor: Es gibt einen mehrere Tausendkilometer entfernten Ort, in dem die Menschen mich willkommen heißen, den ich für immer mein zweites Zuhause nennen dürfen. Eine fremde Familie wird mich als ihre Tochter aufnehmen, einfach so. Und vielleicht habe ich dann zwei Mütter und zwei Väter, die mich lieben und mich abends nach meinem Tag fragen. Und auch neue Freunde, die ich lieben lerne und die im Laufe des Jahres zu Freunden werden, die immer für mich da sind. Und von all diesen Menschen habe ich die Chance, ihr Bild von Deutschland aktiv mitzugestalten, denn Austauschschüler tragen einen wichtigen Teil zur interkulturellen Verständigung bei und helfen eine tolerante Kommunikation zwischen zwei Völkern zu schaffen, auch wenn das einige Leute nicht einsehen wollen. Aber natürlich gehört ebenso ganz viel Spaß dazu: Mit etwas Glück werde ich Homecoming, Prom, mein erstes Football Spiel und Thanksgiving erleben und einem Club nach der Schule beitreten. Wann hat man denn sonst die Chance eine echte amerikanische Highschool zu besuchen und den berühmten school spirit mitzuerleben?

"Ein Austauschjahr ist das beste Jahr deines Lebens. Ohne Zweifel. Und gleichzeitig das Schlechteste. Ohne Zweifel. Es ist etwas, was zuhause keiner richtig verstehen kann"

Nur um das noch einmal klarzustellen: Die größten Vorteile eines Auslandsjahres sind also nicht, wie viele denken, dass ich danach beinahe perfekt Englisch sprechen kann oder positive Punkte für meinen Lebenslauf sammeln möchte. Das sind einfach nur die tollen Nebeneffekte. Der größte Vorteil lässt sich stattdessen mit den Worten "Blick über den Tellerrand" beschreiben. Ich habe jetzt 16 Jahre meines Lebens eine wunderschöne Zeit in meiner Heimat verbracht und viele mir unglaublich wichtige Menschen gefunden, aber jetzt bin ich bereit für ein neues Abenteuer, welches mir die Möglichkeit gibt einzigartige Erfahrungen und prägende Ereignisse zu sammeln, die ich für den Rest meines Lebens nicht mehr vergessen werden. Ein Auslandsjahr ist eine riesengroße Chance, die man so nie wieder bekommen kann. Natürlich gehört viel Mut dazu. Man weiß nie wie das Leben in dem Gastland ist und ob sich das Leben im Heimatland dann verändert oder gleich bleibt. Und deswegen kann ich es auch nachvollziehen, warum viele meiner Freunde gar nicht oder erst später ins Ausland gehen möchten. Ebenso kann ich verstehen, warum viele Leute auch nach diesem Text meine Entscheidung absolut nicht begreifen. Das ist nicht schlimm, schließlich ist es ein Jahr in meinem Leben. Und ich denke nicht, dass ich Zeit "verliere", sondern ein großes Stück Lebenserfahrung gewinne! Ich weiß, dass es eine der besten und schwierigsten Zeiten zugleich wird, aber ich denke, ich werde aus allen negativen Aspekten wachsen. Ich glaube auch nicht, dass ich meine Freunde verliere. Denn echter Freundschaft macht die Strecke nichts aus. Egal wie viele Kilometer wir entfernt voneinander sind oder ob die halbe Welt zwischen uns liegt: gute Freunde kann nichts trennen.

"Tu es, sonst wirst du dich ewig fragen, wie es anders hätte sein können."

Ich persönlich finde, dass ein Auslandsjahr zu den besten Erfahrungen gehört, die ein Jugendlicher machen kann und ich bin unglaublich glücklich, die Chance zu diesem einmaligen Erlebnis bekomme.

Viele liebe Grüße

Jean 😇